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23. August 2025

  • Autorenbild: Philippe Selot
    Philippe Selot
  • 24. Aug.
  • 4 Min. Lesezeit

Gestern gegen Mittag hat mich Deniz im Hotel abgeholt. Danach sind wir einkaufen gegangen, um das Frühstück vorzubereiten, das heute Morgen in der neuen Wohnung seiner Familie stattfinden sollte. Wir gingen zu Migros, das auch in der Schweiz eine der zwei wichtigsten Supermarktketten ist. Obwohl Name und die orange Farbe identisch mit den Läden in der Schweiz sind, bezweifle ich, dass die beiden Unternehmen tatsächlich miteinander verbunden sind. In der Schweiz wurde Migros vor fast hundert Jahren gegründet. Es ist schon erstaunlich, diesen Namen über 2’500 Kilometer entfernt wiederzufinden!

 

Am Abend haben wir uns erneut getroffen, um am Flussufer zu essen – zusammen mit seiner Mutter, seiner Schwester und einer Nachbarin, einer sehr fröhlichen und geselligen Frau. Das Essen war ausgezeichnet, und die Lage direkt am Wasser war besonders schön. Ein wirklich gelungener Abend!

 

Heute Morgen habe ich ein Taxi genommen, um zur Familie Kaplan zu fahren. Ihr neues Gebäude ist ganz neu, auch wenn einige Fertigstellungsarbeiten noch im Gang sind. Ein kleines Manko: das Gas ist noch nicht angeschlossen, also gibt es kein Warmwasser. Zum Duschen müssen sie noch einige Tage über die Strasse in die alte Wohnung gehen, wo die Einrichtungen weiterhin verfügbar sind.

 

Der Esstisch war reich gedeckt, er bog sich fast unter der Menge an Speisen, ein mehr als reichhaltiges Frühstück! Auch die bekannte Nachbarin war wieder dabei. Am Ende des Essens, als der türkische Kaffee serviert wurde, hat sie mir aus dem Kaffeesatz die Zukunft gelesen. Wir haben alle herzlich gelacht und es nicht allzu ernst genommen.

 

Etwas später kam ein Freund der Familie mit seinem alten Fiat, der fast 230’000 Kilometer auf dem Tacho hatte. Bei 38°C ohne Klimaanlage war die Fahrt alles andere als bequem…

 

Wir fuhren etwa 70 km bis ins Dorf Ziyaret zu den Munzur Gözeleri, den Quellen des Munzur-Flusses, der durch Dersim fliesst. Dieser Ort ist für die Aleviten von grosser symbolischer Bedeutung: sie kommen hierher, um innezuhalten und Kerzen anzuzünden. Die Gözeler sind Quellen, die aus dem Berg sprudeln und als rein, lebendig und segensreich angesehen werden. In der alevitischen Tradition sind sie mit heiligen Erzählungen und der spirituellen Gegenwart heiliger Persönlichkeiten verbunden.

 

Obwohl der Ort touristisch geprägt ist, bleibt er sehr schön. Der Weg dorthin führt entlang des Munzur-Flusses durch ein steiles Tal. An manchen Stellen erinnerten mich die Landschaften an Marokko, mit ihren Ockertönen, der kargen Vegetation und den schroffen Felsen. Ein sehr angenehmer Ausflug.

 

Einziger Wermutstropfen: der Fahrer! Seine Fahrweise hat mich ziemlich irritiert… Er beschleunigte, schaltete in den Leerlauf, wartete, bis die Geschwindigkeit auf etwa 40 km/h gefallen war, und legte dann wieder den fünften Gang ein. In den Abfahrten fuhr er ebenfalls im Leerlauf. Diese Methode war nicht gerade vertrauenswürdig…

 

Trotzdem war es ein wunderbarer Tag: beeindruckende Landschaften und die Entdeckung eines wichtigen Ortes der kurdisch-alevitischen Kultur.

 

Doch was genau ist diese Religion, von der ich vor meiner Begegnung mit Deniz kaum etwas wusste? Laut meinen Recherchen im Internet gibt es folgende Hauptunterschiede zwischen sunnitischen/schiitischen Muslimen und den Aleviten:

 

Grundlegende Figuren und Texte:

  • Muslime (Sunniten/Schiiten): folgen dem Koran und der Scharia.

 

  • Aleviten: legen mehr Wert auf die symbolische und mystische Auslegung des Korans als auf eine wörtliche Anwendung. Imam Ali steht im Zentrum, als Verkörperung von Gerechtigkeit und göttlichem Licht. Sie verehren auch die 12 Imame (wie die Schiiten), dazu lokale Heilige (Ocak), Hacı Bektaş Veli (13. Jh.) und weitere Sufi-Gestalten.

 

Religiöse Praktiken:

  • Muslime: fünf tägliche Gebete in Richtung Mekka, Fasten im Ramadan, Pilgerfahrt nach Mekka, Moschee als zentraler Ort.

 

  • Aleviten: keine täglichen Pflichtgebete; die Zeremonien (Cem) finden gemeinschaftlich in Cemevi statt, mit Musik (Saz), heiligen Liedern (Deyiş) und rituellem Tanz (Semah). Fasten vor allem im Muharram (12 Tage) zur Erinnerung an das Martyrium von Imam Hussein in Kerbela. Keine Pilgerfahrt nach Mekka, dafür lokale Wallfahrtsorte (Munzur Gözeleri, Hacı Bektaş).

 

Verhältnis zum Religionsrecht (Scharia):

  • Muslime: die Scharia regelt das tägliche, familiäre und gesellschaftliche Leben.

 

  • Aleviten: lehnen die Scharia als verbindliche Norm ab. Ihre Ethik basiert auf Humanismus, Gerechtigkeit, Respekt gegenüber der Natur und Gleichheit. Ihr zentrales Motto lautet: «Eline, beline, diline sahip ol» (Beherrsche deine Hand, deinen Gürtel und deine Zunge = nicht stehlen, keinen Ehebruch begehen, nicht lügen).

 

Rolle der Frauen:

  • Muslime: Trennung von Männern und Frauen beim Gebet; stärkere Hierarchie.

 

  • Aleviten: Männer und Frauen nehmen gemeinsam am Cem teil, und Frauen können auch spirituelle Verantwortung übernehmen.

 

Gottesbild und Spiritualität:

  • Muslime: Gott ist transzendent, der Glaube beruht auf dem Gehorsam gegenüber seinen Geboten.

 

  • Aleviten: stärker mystische Spiritualität; Gott wird als im Menschen und in der Natur gegenwärtig verstanden. Starker Einfluss des Sufismus, Ziel ist die Vereinigung mit Gott (Hakikat).

 

Identität und Anerkennung:

  • Muslime (Sunniten, Mehrheit in der Türkei): voll anerkannt, mit offiziellen Strukturen (Diyanet).

 

  • Aleviten: oft marginalisiert und lange vom türkischen Staat nicht anerkannt. Ihre religiöse Identität verbindet sich mit Forderungen nach Freiheit und sozialer Gerechtigkeit.

 

Zusammenfassung:

Sunnitische und schiitische Muslime praktizieren eine Religion, die durch die Scharia, die täglichen Gebete, den Ramadan, die Moscheen und die Pilgerfahrt nach Mekka strukturiert ist.

 

Die Aleviten bevorzugen eine mystische und gemeinschaftliche Herangehensweise: keine Moschee, keine täglichen Gebete, keine Scharia, sondern gemeinschaftliche Rituale mit Musik und Tanz, starke Verehrung von Ali, den 12 Imamen und lokalen Heiligen sowie eine Ethik, die auf Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Gleichheit beruht.

 

ree


 
 
 

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